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André JOLIVET
ANDRE JOLIVET (1905–1974)
André Jolivet wurde am 8. August 1905 im Pariser Künstlerviertel Montmartre geboren, dessen dialektalen Einschlag er sich zeit seines Lebens bewahrte. Seine Mutter spielte recht gut Klavier, sein Vater hegte eine große Leidenschaft für die Malerei. Doch obwohl sie beide so kunstbeflissen waren, konnten sie sich nie damit abfinden, dass ihr Sohn eine professionelle Laufbahn als Künstler einschlug. Sie wussten zwar, dass Lyrik, Literatur, Theater und Musik eine große Anziehungskraft auf ihn ausübten, zogen daraus aber keine Schlüsse im Hinblick auf seine Zukunft. Mit 13 Jahren vertonte André eines seiner eigenen Gedichte, Romance barbare; mit 15 komponierte er die Musik für ein Ballett, zu dem er das Drehbuch geschrieben und auch das Bühnenbild und die Kostüme entworfen hatte.
Er lernte die Grundlagen des Klavierspiels von seiner Mutter und nahm Cellounterricht bei Louis Feuillard, bevor er sich ernsthaften Studien zuwandte und Unterricht in Orgelmusik, Improvisation und Musikanalyse bei Abt Théodas nahm, dem Chormeister von Notre-Dame de Clignancourt. Seine Berufung, das wusste er jetzt mit Sicherheit, war die Musik, und er würde alles tun, um Komponist zu werden. Doch seine Eltern bestanden darauf, dass er seine Schulausbildung zu Ende führte, und er beugte sich ihrem Willen. Mit 15 wechselte Jolivet vom Lycée Colbert zur École Normale d’Auteuil und absolvierte eine Lehrerausbildung. Ab 1927 unterrichtete er an verschiedenen staatlichen Schulen in Paris. Diese Arbeit nahm ihn zwar sehr in Anspruch, sicherte ihm aber finanzielle Unabhängigkeit.
Von 1928 bis 1933 studierte er neben der Arbeit Harmonielehre, Kontrapunkt, Fuge und klassische Musikformen bei Paul Le Flem, dem Chorleiter der Chanteurs de St. Gervais. Über dessen Vermittlung lernte er 1930 Edgar Varèse kennen. Diese Begegnung war für den jungen Mann auf der Suche nach sich selbst eine Offenbarung. Als Schüler von Varèse – übrigens der einzige in Europa – erhielt er seine Initiation in die Musik. Jolivets Vorahnungen wurden zur Gewissheit: Ihm wurden die Tore zu neuen Techniken und Ausdrucksweisen, zur Erforschung der Akustik, zur anspruchsvollen Verwendung des Schlagwerks aufgestoßen. Damit stand ihm endlich das nötige Arbeitsmaterial für die Ausgestaltung seines Werks zur Verfügung.
Als Erstes entstand ein Streichquartett (1934) – nach neuestem Kenntnisstand eine Sonate für Violine und Klavier (1932), die im Archiv A. Jolivet entdeckt wurde (UA 1989) –, dessen Originalität beim Publikum nicht gut ankam, dafür Olivier Messiaen umso mehr überzeugte. Er ließ sich mit ihm bekannt machen. Aus dieser Begegnung entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden Komponisten.
1935 gründete Jolivet eine Gesellschaft für avantgardistische Kammermusik und scharte Olivier Messiaen, Daniel Lesur, Georges Migot und N. Lejeune um sich. Im Jahr darauf entstand auf Initiative von Yves Baudrier zusammen mit André Jolivet, Olivier Messiaen und Daniel Lesur die Gruppe „Jeune France“, bis zum Kriegsausbruch 1939 die ernstzunehmendste und aktivste französische musikalische Gruppierung. Aus dieser Zeit stammen Jolivets ersten Werke ganz eigener Prägung:
- das Streichquartett (1934), mit dem er zum ersten Mal seine atonalen Vorstellungen umsetzte,
- Mana, sechs Stücke für Klavier (1935), die mit einer auf natürlichen Schwingungen basierenden Klaviersprache von Okkultismus, Beschwörung und Magie handeln,
- Cinq incantations für Flöte (1936) und
- Incantations Pour que l’image devienne symbole für Ondes Martenot (1937).
Daran schlossen sich in rascher Folge an:
- Trois chants des hommes für Bariton und Orchester (1937),
- Cosmogonie für Orchester (1938) und
- Cinq danses rituelles für Klavier oder Orchester (1939),
denen die Suche nach neuen Themen, Techniken und Ausdrucksweisen gemeinsam ist.
Mittlerweile hatte er sich eine Bekanntheit als Komponist der Avantgarde erworben. Seine Musik wurden vom Orchestre de la Société Nationale, auf den Concerts de Montparnasse, den Abendveranstaltungen der Revue Musicale und in zahlreichen Konzerten gespielt. Zudem leitete er das Musikressort der Zeitschrift Nouvelle Saison für Literatur und Kunst. Sogar der Krieg tat seiner schöpferischen Arbeit keinen Abbruch – er wurde eingezogen, kam nach Fontainebleau, wo er Messe pour le jour de paix schrieb, und musste später an der Front kämpfen.
Unmittelbar nach der Freilassung komponierte er:
- Les trois complaintes du soldat (dt. Drei Klagelieder des Soldaten) für Bariton und Orchester (1940),
- die Ballettmusik Les quatre vérités (1940; Libretto: H. R. Lenormand),
- Bühnen- und Filmmusiken sowie
- seine erste Oper Dolores im Jahr 1942.
1943 erhielt Jolivet ein Engagement als Dirigent an der Comédie Française für die Aufführungen der Stücke von Arthur Honegger und des Dramas Souliers de satin (dt. Der seidene Schuh) von Paul Claudel. Es war sein Einstand in das sogenannte „Maison de Molière“, dessen Musikdirektor er von 1943 bis 1953 war.
Mittlerweile hatte er dank eines Stipendiums der Association pour la diffusion de la pensée française, das ihm durch Vermittlung des Schriftstellers Georges Duhamel bewilligt worden war, seinen Lehrerberuf aufgeben können und widmete sich ausschließlich der Musik. Es folgte eine äußerst produktive Schaffensphase, in der unter anderem die Ballettmusiken für Guignol et Pandore (Opéra de Paris, 1944) und L’Inconnue (Opéra de Paris, 1950), Bühnen-, Film- und Radiomusiken, sinfonische Werke (Psyché, 1946; Première symphonie, 1953; Suite transocéane, 1953), acht Konzerte, ein Oratorium und Chorstücke entstanden.
1959 bis 1962 war Jolivet technischer Berater der „Direction des Arts et Lettres“, 1966 wurde er zum Professor für Komposition an das Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris berufen und behielt den Lehrstuhl bis 1971 bei. Seine Titel und Auszeichnungen, seine leitenden Ämter (er war u. a. Vorsitzender der Concerts Lamoureux und Ehrenvorsitzender der französischen Musikergewerkschaft) und seine Mitwirkung bei zahlreichen renommierten Jurys machten ihn zu einem prominenten Akteur des französischen Musiklebens.
Längst war Jolivets musikalisches Werk, das in der Pariser Oper zu erleben war, von den namhaftesten Sinfonieorchestern weltweit gespielt, regelmäßig im Radio gesendet und von der Musikkritik aufmerksam verfolgt wurde, über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus bekannt. Er selbst dirigierte Aufführungen seiner Werke und gab Interviews in zahlreichen europäischen Ländern sowie in Ägypten, Japan, Libanon, Mexiko, Russland und den USA.
Die solide Basis seines technischen Könnens verdankte André Jolivet zweifellos Abt Théodas und vor allem Paul Le Flem. Den „psychologischen Schock“ aber, der ihm endgültig die Augen für den einzuschlagenden Weg öffnete und ihn wohl zum meist engagierten Komponisten unserer Zeit machte, hat ihm Edgard Varèse beschert.
Kunst war für ihn ein „Mittel, um eine Weltanschauung, also eine Überzeugung zum Ausdruck zu bringen“. Kein reines Vergnügen, v ielmehr „eine vitale, kosmische Notwendigkeit“, das Abbild des uralten Kampfes zwischen Geist und Materie. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Musik als „Gesang des Menschen“. Sie beginnt mit einer Beschwörung, die noch primitive und magische Züge aufweist (Mana, Cinq incantations, Danse rituelle), und läuft dann einerseits auf die einfache, direkte und ergreifende Sprache der Trois Complaintes oder der Poèmes intimes hinaus, andererseits auf ständig wechselnde Bilder ein und desselben Kampfes und Wunsches (Concerto pour ondes, Concerto pour piano), auf ein ausgewogenes Verhältnis von Magie und Alltag (Klaviersonaten), die Synthese von Universalem und Menschlichem (Sinfonien) und den Frieden von Epithalame.
Diesen vielfältigen Zielen dienen mannigfaltige Ausdrucksmittel: eine atonale Sprache, deren Dreh- und Angelpunkt Noten, Akkorde, Klanggruppen, Schlüssel-Rhythmen bilden, um die herum sich bewegte Klangmassen anordnen und entfalten. Erneuerte musikalische Formen, bei denen die Durchführung einen zentralen Stellenwert einnimmt: eine erweiterte, antagonistische Durchführung, die die Melodie ebenso wie die Harmonie, die Rhythmusgruppen ebenso wie die Klangmassen antreibt. Eine ebenfalls erneuerte Instrumentalsprache, die Instrumente in einer neuen Tonhaftigkeit verwendet, wie exotische Instrumente oder elektrische Wellen. In seinen jüngsten Werken bevorzugt der Komponist den seriellen Gebrauch einer erweiterten modalen Ausdrucksform unter Verwendung der Hauptmerkmale der Musik von Urvölkern.
Die Ziele, die Jolivet mit seiner Musik verband, und die Mittel, die er einsetzte, um sie zu erreichen, erklären, warum er in der zeitgenössischen französischen Musik einen ganz eigenen Platz einnimmt. Er gehörte keiner Schule, keiner Gruppierung an. Er ließ sich von nichts anderem leiten als von seinem Instinkt und seinem erworbenen Können.
André Jolivet starb am 20. Dezember 1974 in Paris.
Kreationen & Konzerte
Werke, die komponiert wurden von André JOLIVET
Diskografie
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2015
Aparté Music
Trumpet Concertos
Romain Leleu
CHANT DE L’ÂME, pour orchestre à cordes et trompette
Orchestre d’Auvergne - Romain Leleu (trompette) - Roberto Forés Veses (direction)