Zum Inhalt springen Zur Hauptnavigation gehen
Martin Matalon

Martin MATALON

In einer Musiklandschaft, die sich gerade von den abstrakten Denkschemata zu lösen begann, in die ein überbordender Experimentierungsdrang sie gepresst hatte, stand der Argentinier Martín Matalon (geb. 1958 in Buenos Aires) von vornherein für den Ausbruch einer bunten Fantasie, die dem Einsatz von Klängen aus den Retorten der experimentellen Moderne eine neue Bestimmung und neue Anwendungen verschafft.

Er emigrierte zunächst an die Ostküste der Vereinigten Staaten, doch enttäuscht von einem gewissen Konservativismus, der das Musikleben beherrschte, ging er nach Frankreich, wohin ihn die Vitalität einer ungebrochenen Schaffenskraft zog, für die Namen wie Messiaen, Boulez, Murail und Grisey standen. Er eignete sich das dort entwickelte Instrumentarium an – insbesondere Elektronikkenntnisse, die er am Forschungsinstitut für Akustik/Musik IRCAM erweiterte. Sie stellte er in den Dienst eines kreativen Ungestüms, dessen Wurzeln und Nährboden fernab des Musikalischen zu suchen sind.
Nicht minder akribisch sind die Ansprüche dieses Klangarchitekten an seinen Kompositionsprozess, gleichwohl birgt der Gefühlsreichtum, der aus der Kombination zweier komplementärer Kunstrichtungen entstehen kann, eine permanente Auseinandersetzung in sich. Die plastische Auffassung des Tons, der den Spuren literarischer Entlehnungen Konturen verleiht; die musikalische Begleitung (die keine „Filmmusik“ im veranschaulichenden Sinn mehr ist) als Tropus der Bedeutung des filmischen Bildes; die suggestive Fantasie, die sich zwischen die Wörter eines Märchens schmuggelt – so sehen die Schlüsselerlebnisse aus, die Matalons Werk durchziehen.
Statt um Interdisziplinarität, wie sie heutzutage verstanden wird, geht es hier um ein Übersetzen von Gefühlen, welches konstruktive Fragen eines Künstlers an einen anderen aufwirft. Von Jorge Luis Borges hat Martinon nicht nur die labyrinthische Fantasiewelt verinnerlicht, er hinterfragt auch die knappe Form, deren Bündigkeit Reichhaltigkeit birgt. Von Luis Buñuel (Ein andalusischer Hund, Das goldene Zeitalter) hat er sich nicht nur den gewagten Surrealismus gemerkt, sondern auch die einmontierten „Einstellungen“ (im filmischen Sinne), die bei ihm zu „Klanggegenständen“ werden, zu „Intarsien“ in einem Flechtwerk aus Metaphern, die das Gesamtprojekt vorgibt. Seine Arbeit zu Fritz Langs Film Metropolis hat ihn zu einer Reflexion über die Überlagerung von narrativer Zeit, visuellem Rhythmus und individuell gestaltetem musikalischem Tempo veranlasst.
Parallel zu diesen Experimenten (von denen er sich erhofft, dass sie dazu beitragen, den im „klassischen“ Konzert allzu festgefahrenen Spiel-Rahmen zu erneuern) fährt der Komponist mit seiner Erforschung klanglicher und formaler Wechselbeziehungen entlang von Spuren fort, die anhand allgemein gehaltener Titel identifiziert werden: Sein Zyklus Traces (bis 2010 umfasste er sieben Kompositionen) konzentriert sich auf die Kombination aus einem Instrument (bzw. einer Stimme) und dessen elektronischer Verwandlung in Realzeit. Dabei ist die oben erwähnte transversale Vision durchaus gegeben: Er definiert die Traces – Spuren als „persönliches kompositorisches Tagebuch“ und „Reise ins Innere des Klangs“, deren eine Etappe (Traces II für Viola und Elektronik) von seiner Filmmusik zu Las Hurdes – Land ohne Brot von Buñuel inspiriert ist. Mit dem Zyklus Trames (elf Kompositionen bis 2010) versucht er komplexere Probleme – untergründige Pfade, Spannungen, Ausgestaltungen formaler Gewebe – der Eingliederung eines Soloinstruments in kammermusikalische Ensembles verschiedener Besetzung oder in große Sinfonieorchester bzw. bei deren Gegenüberstellung zu lösen; und auch hier „ist der Oberbegriff Trame dem Prosatext La trama [Der Plot] von Jorge Luis Borges entlehnt, der eine unsichtbare, unfassbare Gleichzeitigkeit aller Bausteine der ,Universalgeschichte‘ aufdeckt“, schreibt Martín Matalon.
So kann der Melomane diesem Korpus – der so vielfältig von seinen Konfigurationen wie homogen von seiner Beschäftigung her ist – die magischen Empfindungen einer Farbexplosion entnehmen, die ihn poetischen Visionen zuführt. Der professionelle Musiker zieht obendrein das Zusammenspiel der strukturellen Verzweigungen in Betracht, die dazu neigen, die Summe der Vielen in einen eindeutigen Gestus münden zu lassen. Ein Gestus, der – höchste Dialektik – die dem Werk aufgestempelte Richtung einfängt, ohne es daran zu hindern, sich frei aufzuschwingen zu können.


Sylviane Falcinelli

martinmatalon.com